„Nichts ist so mächtig wie eine gute Geschichte. Darum ist es manchmal fast egal, ob sie stimmt.“ Diese Worte schrieb der Reporter Carlos Hanimann über den Untergang der Schweizer Großbank Credit Suisse. [1] Deren Chef hatte kurz zuvor noch die starke Kapitalbasis und die hohe Liquidität betont. Und die Aufsicht bescheinigte der Bank, fundamental intakt zu sein. Doch die Kunden hatten das Vertrauen verloren. Allein im 4. Quartal 2022 zogen sie mehr als 100 Mrd. Schweizer Franken ab. Bald darauf folgte der Kollaps.
Finanzmärkte folgen nicht Logiken, sondern Geschichten. (Prof. Stefan Leins)
Narrative gab es schon immer
Natürlich spielen Zahlen an der Börse eine wichtige Rolle. Es kommt aber darauf an, wie man sie interpretiert. Schon die Südseeblase im Jahr 1720 begann mit Geschichten, die man sich in den Kaffeehäusern in London erzählte. Auch anderen Stories folgten Herden von Anlegern. Ein gutes Beispiel war die New Economy: Als die Märkte Ende der 1990er Jahre immer extremere Bewertungen erreichten, entstand das Narrativ, der klassische Konjunkturzyklus sei abgeschafft worden und man befinde sich in einer völlig neuen Wirtschaftsära. Ein Trugschluss, wie wir heute wissen.
Inzwischen können sich Geschichten an den Märkten über digitale Medien, ob wahr oder nicht, schneller in der ganzen Welt verbreiten als je zuvor und so die Kurse beeinflussen. Für Anleger wird es also immer wichtiger, die Erzählungen zu verstehen und zu verfolgen. Daraus entstand die Forschungsrichtung Narrative Finance. Sie untersucht, wie Geschichten die Wahrnehmung und Entscheidungen von Anlegern prägen.
Storytelling ist das größte Geheimnis der Unternehmensbewertung. (Prof. Aswath Damodaran)
Narrative Economics
Den Durchbruch in den Mainstream-Finanzmedien erlebte das Thema mit der Veröffentlichung des Buchs „Narrative Economics“ von US-Nobelpreisträger Robert Shiller im Jahr 2019. Ihm zufolge kommunizieren Marktteilnehmer miteinander, um ihr Wissen abzugleichen. Dabei werden weniger objektive Zahlen und Fakten besprochen, sondern vereinfachte, leichter verständliche Erzählungen, wie in sozialen Interaktionen üblich. Die etwas ungenaueren Geschichten können sich wie eine Epidemie ausbreiten, denn sie sind interessanter als bloße Zahlen und Fakten. Informationen, die durch Mund-zu-Mund-Propaganda übermittelt werden, können sich dabei verstärken und das Verhalten der Masse maßgeblich beeinflussen. Wenn man die großen Narrative und das darauf basierte kollektive Verhalten berücksichtigt, lassen sich die Finanzmärkte also besser verstehen. [2]
Jede Marktbewertung ist eine Zahl von heute multipliziert mit einer Geschichte von morgen. (Morgan Housel)
Verzerrende Effekte
Shiller hinterfragt den starken Fokus ökonomischer Modelle auf mathematische Formeln. Doch es wird kritisiert, dass seine Theorie schwammig ist und sich nur indirekt in Anlagestrategien umsetzen lässt. Außerdem besteht das Risiko in einer Entkopplung von der fundamentalen Entwicklung. Der Studie „Belief Overreaction and Stock Market Puzzles“ zufolge können Überreaktionen auf gute Nachrichten zu einem übermäßigen Optimismus und überhöhten Aktienkursen führen. [3] Enttäuscht das Gewinnwachstum dann später, folgt die Kursumkehr. Dieser Effekt kann Anomalien wie Momentum, Reversal und Übervolatilität teilweise erklären. Wohl auch deshalb, weil Narrative das Arbitrage-Risiko erhöhen, sodass Fehlbewertungen in geringerem Maße korrigiert werden als ohne Story-Effekte. Zudem reduziert der Fokus auf Geschichten die Aussagekraft der Aktienkurse für künftige Fundamentaldaten. [4] Narrative scheinen also auch in Zusammenhang mit der Makro-Ineffizienz der Märkte zu stehen.
Fazit
Überzeugende Narrative bewegen den Markt, weil sie für die breite Masse verständlich und greifbar sind.
Hinweis: Eine frühere Version dieses Artikels erschien in Smart Investor.
Quellen:
[1] Hanimann, C. (2023), Und am Ende war sie bloss noch ein schlechter Witz, Republik
[2] Shiller, R. (2019), Narrative Economics, Princeton University Press
[3] Bordalo, P. / Gennaioli, N. / Laporta, R. / Shleifer, A. (2024), Belief Overreaction and Stock Market Puzzles, NBER Working Paper No. w27283
[4] Dim, C. / Sangiorgi, F. / Vilkov, G. (2024), Media Narratives and Price Informativeness, HKU Jockey Club Enterprise Sustainability Global Research Institute
Hallo,
Die Aussage in Pos.1 erinnert stark an die BAYWA. Einfach CS durch Baywa ersetzen.
Dani
Das Vertrauen der Anleger bzw. eine gute Reputation ist für viele Firmen entscheidend. Aber wie sagte Buffett so schön: „It takes 20 years to build a reputation and 5 minutes to ruin it.“